"Be like we are" - Medical movement in Ukraine
Solidarität mit Kolleg:innen unter Kriegsbedingungen
Hermann Nehls, August 2025
Der Krieg in der Ukraine ist in Deutschland ein öffentliches Thema. Tagtäglich. Kaum bekannt sind jedoch die alltäglichen Bedingungen, unter denen die Menschen im Krieg arbeiten müssen. Dabei leiden die Beschäftigten nicht nur unter dem Kriegsterror, sondern auch unter einer Politik, die sich schon vor dem Angriff Russlands dem neoliberalen Credo der Deregulierung und deren Kernanliegen verschrieben hat: dem Abbau von Arbeitsrechten.
Um dem etwas entgegen zu setzen, haben wir, Gewerkschafter:innen aus verschiedenen deutschen Städten, Anfang 2023 die Initiative "Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften – Humanitäre Hilfe" gegründet. Zur Lage der Beschäftigten sammelt die Initiative verlässliche Informationen, baut Kontakte zu Kolleg:innen auf und wirbt um Spenden.
Über persönliche Beziehungen standen wir von Anfang mit der unabhängigen Gewerkschaft der Eisenbahner:innen und zu Initiativen der Beschäftigten im Gesundheitsbereich in Verbindung. Mit Spendengeldern haben wir ermöglicht, dass die Kolleg:innen in der Ukraine notwendige medizinische Materialien und Medikamente beschaffen und ihre Kolleg:innen, die aus russisch besetztem Gebiet fliehen mussten, finanziell unterstützen konnten. Von Beginn an wurde unsere Initiative dabei durch die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt gefördert.
Von persönlichen Kontakten zu struktureller Hilfe
Eine wichtige Etappe in der Unterstützungsarbeit war unsere Delegationsreise in die Ukraine im Oktober 2023, an der Gewerkschafter:innen aus Deutschland und der Schweiz teilnahmen. Sie war der Beginn eines intensiven Austauschs vor allem mit einer Initiative von unabhängigen Krankenpfleger:innen, der bis heute anhält. Damals nannte sich die Initiative "Be like Nina", inzwischen hat sie einen neuen Namen: "Medical movement – Be like we are". Sie gehört zu den zahlreichen Initiativen von Beschäftigten, die vor dem Krieg aus lokalen Konflikten entstanden sind, bei denen sich Beschäftigte von den staatsnahen Gewerkschaften im Stich gelassen fühlten.
Austausch im Oktober 2023 bei ArcelorMittal in Krywyj Rih, Ukraine | © Hermann NehlsDiese Basisinitiative entstand bereits 2019 als Reaktion auf massive Missstände im ukrainischen Gesundheitssystem. Auslöser war ein emotionaler Facebook-Post von Nina Koslowska, in dem sie die prekären Arbeitsbedingungen ihrer Berufsgruppe schilderte: "Eines nachts kam ich nach Hause von der Arbeit, öffnete Facebook und schrieb mir alles von der Seele: unter welchen Bedingungen wir arbeiten, was unsere Löhne sind" – ein Hilferuf, der innerhalb eines Tages über 24.000 Mal geteilt wurde. Was folgte, war eine landesweite Protestwelle: Pflegekräfte demonstrierten vor dem Parlament, Ärzt:innen, Studierende und Aktivist:innen solidarisierten sich. Die Symbolik war drastisch – etwa ein Transparent mit blutroter Schrift und Masken mit der Aufschrift: "Wir sind keine Sklaven".
Diese Bewegung war keine spontane Eruption, sondern Ausdruck struktureller Missstände. Im Zuge der Gesundheitsreform zwischen 2016 und 2020 wurden staatliche Leistungen massiv zurückgefahren. Die Deregulierung hatte drastische Folgen in der Pflege: Die Standardbestimmungen für die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte wurden abgeschafft und Finanzmittel für öffentliche Kliniken gestrichen. Hohe Arbeitsbelastung, Überstunden, unzureichende Ausstattungen sowie ein niedriges Gehalt kennzeichnen die Arbeit ukrainischer Pflegekräfte. Trotz hoher emotionaler Belastung und Stress fehlt es Pflegekräften an angemessener psychologischer Unterstützung. Damit nicht genug: Die meisten müssen sich außerdem noch um ihre Familienhaushalte kümmern und arbeiten in Nebenjobs, weil das Geld nicht reicht.
Studie: Wie ukrainische Krankenschwestern arbeiten
In einer eigenen Studie "ОДНА ЗА ТРЬОХ: ЯК ПРАЦЮЮТЬ УКРАЇНСЬКІ МЕДСЕСТРИ" ("Eine für drei: Wie ukrainische Krankenschwestern arbeiten") betont die Initiative, dass Krankenschwestern wegen der hohen Arbeitsbelastung und der unzureichenden Arbeitsbedingungen regelmäßig mit Burnout zu kämpfen haben und massenhaft ihren Beruf aufgeben. Detailliert beleuchtet die Studie die katastrophalen Zustände. Sie enthält auch konkrete Empfehlungen: unter anderem die Einhaltung gesetzlicher Schutzvorgaben, verbindliche Präventionsmaßnahmen gegen Burnout und die Einbindung der Pflegekräfte in Reformprozesse.
Pressekonferenz zum "Tag des Arztes" am 27. Juli 2025 über extreme Arbeitsbelastungen im Gesundheitswesen | © "Be like we are" (www.medryh.com.ua)Doch gerade Letzteres bleibt ein Problem. Zwar gestehen auch Weltgesundheitsorganisation und das ukrainische Gesundheitsministerium die prekären Bedingungen ein, doch laut der Initiative sind die daraus folgenden Maßnahmen weiterhin intransparent und werden ohne die Betroffenen geplant. Auch bei der aktuellen Erarbeitung des Entwicklungsplans für das ukrainische Gesundheitswesen bis 2030 lässt das Gesundheitsministerium entscheidende Fragen unbeantwortet: Wer verfasst die Reformvorschläge? Welche Interessen stehen dahinter? Welche Rollen spielen internationale Akteure?
Gewerkschaftliche Netzwerke über Grenzen hinweg
Vor diesem Hintergrund gewinnt internationale Solidarität an Bedeutung. "Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine" war das Motto der Veranstaltung, die wir im Juni 2024 zusammen mit dem Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin organisierten. Die ebenfalls von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt geförderte Veranstaltung im Berliner IG Metall-Haus verstand sich als Gegenveranstaltung zur Ukraine Recovery Conference, die am 11. und 12. Juni 2024 von Bundesregierung und EU-Kommission veranstaltet wurde. Weder diese offizielle Regierungskonferenz noch ihr Begleitprogramm brachten die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung zur Sprache, die die Last des Krieges zu tragen hat. Im Gegenteil: Ziel der Regierungskonferenz war es vielmehr, die Interessen des internationalen Kapitals abzusichern und den Sozialabbau in der Ukraine voranzutreiben.
Auf unserer Veranstaltung kamen diejenigen zu Wort, die bei dieser Konferenz kein Gehör fanden: Gewerkschafter:innen von ArcelorMittal, dem größten Stahlwerk in der Ukraine, die Studierendengewerkschaft Prijama Dija aus Lviv und natürlich die Initiative BeLikeNina. Im Dialog mit Aktiven der Berliner Krankenhausbewegung wurden Erfahrungen mit Arbeitskämpfen, Selbstorganisierung und Strategien gegen neoliberale Reformen ausgetauscht. Anders als die Regierungskonferenz verfolgten wir das Ziel, die sozialen Rechte zu verteidigen und die Staatsschulden der Ukraine zu streichen, ohne die an einen selbstbestimmten Wiederaufbau nicht zu denken ist.
Widerstand von unten – Perspektive für morgen
Arbeiten in der Kriegswirtschaft stellt eine besondere Herausforderung dar, die Solidarität und eine langfristige Unterstützung erfordert. Die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt fördert die Initiative "Medical movement – Be like we are" mit einer Zuwendung über einen Zeitraum von drei Jahren (2025 bis 2027), um die Selbstorganisierung der Beschäftigten im Gesundheitswesen zu stärken. Wie wichtig diese Initiative ist, zeigt sich aktuell bei der Debatte um die Entwicklung des Gesundheitswesens in der Ukraine bis 2030. Der Prozess ist nicht öffentlich, die Auswahl der Expert:innen, die die neuen Normen ausarbeiten sollen, nicht transparent, und Anfragen, die Zwischenergebnisse einzusehen, werden abgewiesen. Es hilft nur Druck von unten, um auf die Interessen der Beschäftigten aufmerksam zu machen. Durchaus mit Aussicht auf Erfolg: Als die ukrainische Regierung kürzlich versuchte, die Unabhängigkeit der nationalen Antikorruptionsbehörde (NABU) zu beschneiden, war es massiver öffentlicher Protest, der die Regierung zur Rücknahme ihres Vorhabens zwang.
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