"Wir alle haben schon diskriminiert"
Awareness – ein neues Arbeitsfeld entsteht
Interview mit Ann Wiesental, September 2025
Awareness-Teams kümmern sich wie Security-Dienste um die Sicherheit, zum Beispiel bei Veranstaltungen. Lange Zeit ein Ehrenamt mit einem Bewegungs- und Community-Ansatz, wird Awareness mehr und mehr zum Beruf. Die Stiftung hat zwei Veranstaltungen der Berliner Initiative "Awareness stärken!" gefördert. Beschäftigte tauschten sich aus, wie sie bessere Arbeitsbedingungen mit angemessener Entlohnung in der Branche erreichen können.
Awareness-Pionierin Ann Wiesental skizziert im Gespräch mit Gerhard Klas die Entwicklungen der letzten Jahre. Sie ist seit knapp zwanzig Jahren in der Branche aktiv und hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht.
Was ist eigentlich Awareness-Arbeit und wie unterscheidet sie sich von Arbeitsfeldern der klassischen Sicherheitsdienste?
Awareness kommt aus dem Englischen und bedeutet Achtsamkeit. Der Begriff steht für ein Bewusstsein, das Diskriminierungs-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse im zwischenmenschlichen Bereich im Blick hat. Das schließt eigene Betroffenheit und Grenzen mit ein. Awareness ist ein sehr umfassender Ansatz. Es gibt Schnittmengen zur Security: Beide sollen auf Veranstaltungen den Teilnehmenden das Gefühl der Sicherheit vermitteln. Security-Mitarbeiter werden jedoch erst tätig, wenn etwas vorgefallen ist. Unsere Arbeit beginnt schon im Vorfeld und beinhaltet viele präventive Elemente, zum Beispiel Barrierefreiheit. Securities sind eher mit den Personen beschäftigt, die übergriffig werden. Wir haben überwiegend mit den von Übergriffen betroffenen Personen zu tun. Konflikte mit Security-Mitarbeiter:innen gibt es, wenn sie sexistisches Verhalten als Kavaliersdelikt abtun oder Menschen an Clubtüren abweisen, weil sie eine bestimmte Hautfarbe haben oder queer sind.
Wie ist das neue Feld der Awareness-Arbeit entstanden?
Die antirassistischen Bewegungen und ihre No-Border-Camps spielen hier eine wichtige Rolle, aber auch Wohnprojekte. Im Zusammenleben kam es dort immer wieder zu Diskriminierungen, aber auch zu sexualisierter Gewalt. Awareness entstand aus der Idee, dieser Care-Arbeit eine Struktur zu geben. Wenn wir etwa auf einem Politcamp eine Awareness-Gruppe haben, wissen alle, an wen sie sich wenden können. Betroffene sind bei Diskriminierungen dann nicht darauf angewiesen, dass ihr Umfeld gerade Zeit hat und aktiv werden kann.
Ihr versteht eure Arbeit als politische, herrschaftskritische Arbeit. Was bedeutet das konkret?
Diskriminierung und Gewalt bauen auf Herrschaftsstrukturen auf und stabilisieren sie. Es sind eben nicht Einzelfälle oder einzelne Personen, die sich gewalttätig verhalten. Dahinter stecken verschiedene Herrschaftsverhältnisse: Patriarchat, Rassismus, Kapitalismus. Wir stellen die Handlung, nicht die Person in den Vordergrund, sprechen eher über "diskriminierende" oder "gewaltausübende Personen" als über "Täter". Ich gehe davon aus, dass sich Menschen verändern können. Wir alle haben schon diskriminiert.
Mittlerweile gibt es auch kommerzielle Veranstalter, die auf Awareness-Konzepte setzen. Inwiefern hat sich eure Arbeit im Laufe der letzten Jahre verändert?
2007 sind wir das erste Mal mit unserer Awareness-Struktur an die Öffentlichkeit getreten. Vor allem soziale Bewegungen haben uns angefragt. 2012 haben wir das erste Mal ein Team beim Fusion-Musikfestival gestellt. Anschließend gab es mehr und mehr Anfragen aus der Club- und Festivalbranche. Sogar bei der Fußball-Europameisterschaft 2024 waren Awareness-Teams im Einsatz. Wir haben in diesem Jahr die Beschäftigten des Berliner Olympiastadions geschult. Die Stadt Wien hat jüngst den Beschluss gefasst, dass alle größeren Veranstaltungen und Clubs ein Awareness-Team haben müssen.
Also steigt auch der Bedarf an mitarbeitenden Kolleg:innen?
Er wächst beständig und kann kaum gedeckt werden. Es gibt auch einen hohen Bedarf an Schulungen und Workshops. Wenn Veranstalter externe Awareness-Teams buchen wollen, wird es schwierig. Wir regen dann an, dass die Veranstalter ihre eigenen Leute schulen, um Awareness-Teams zu bilden.
Schlägt sich das auch organisatorisch nieder?
Wir vernetzen uns in Deutschland und Österreich jetzt stärker. 2021 haben wir das Awareness-Institut gegründet. Wir machen nach wie vor viel ehrenamtliche Arbeit, etwa auf politischen Camps. Wir nehmen aber auch Honorare, zum Beispiel für Schulungen. Es ist ein Mischkonzept, wobei wir beim Awareness-Institut noch ohne festangestellte Personen arbeiten. Viele, die Awareness-Arbeit anfragen, wollen nur wenig bezahlen, manchmal auch gar nichts. Awareness ist eine Form von Care-Arbeit, die nicht besonders hoch gewertet wird.
Welchen sozialen Hintergrund haben die Leute in der Branche? Haben viele selber diskriminierende Erfahrungen gemacht?
Ja, die meisten von uns. Der Awareness-Ansatz ist von Betroffenen und deren Verbündeten entwickelt worden. Ihre Erfahrungen fließen in unsere Arbeit ein. Dazu gehören People of Color, Non-Binary- und Trans-Personen. Ebenso Menschen mit Behinderung und solche, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Uns ist es wichtig, dass der Bereich sich nicht derart professionalisiert, dass er sich irgendwann abkoppelt von der politischen Bewegung. Zum sozialen Hintergrund: Es engagieren sich vor allem Studierende. Das ist ein Manko.
Würdet ihr es also begrüßen, wenn Berufsschulen bei euch für Workshops anfragen?
Ja, auf jeden Fall. Es gab schon Dorffeste, da haben uns Leute angefragt, weil sie eine Awareness-Gruppe bilden wollten. Schon von der Sprache her sind da Welten aufeinandergeprallt: Jüngere Studierende auf Ältere, die keinen Hochschulabschluss haben. Wir müssen uns immer wieder bewusstmachen: mit wem spreche ich und wo bin ich hier gerade. Wenn wir die Grundlagen der Awareness-Arbeit erklären, dann klingt das oft sehr akademisch und beinhaltet eine ganze Menge komplizierter Vokabeln. Da müssen wir Übersetzung liefern und Worte benutzen, die nicht abschreckend wirken.
Wie sehr ist im Awareness Sektor ein wertschätzendes Bewusstsein für die eigene Arbeit vorhanden? Wenn man Awareness als Arbeit begreift, reichen ja keine warmen Worte. Ihr wollt auch angemessen davon leben können.
Von einem angemessenen Lohn sind wir noch sehr weit entfernt. Wenn Personen für Awareness-Einsätze gesucht werden, gibt es offene Anfragen über spezielle Signal- oder Telegram-Gruppen. Diese Angebote liegen in der Regel zwischen 15 und 20 Euro die Stunde. Das ist für eine selbstständig arbeitende Person, die sich selber krankenversichern muss, viel zu wenig. Die wenigen Angestellten arbeiten meistens in Anlehnung an die niedrigsten Tarife des öffentlichen Dienstes. Da verdient niemand gut. Die Notwendigkeit, sich zu organisieren, sehen einige. Aber es ist schwer, das auch umzusetzen. Gerade in der Musik-Kultur-Club-Branche wird das Community-Feeling großgeschrieben. Man ist ein großer Freundeskreis. Da beuten sich alle selber aus. Ich bin zwar selbst Mitglied der Gewerkschaft verdi. Insgesamt ist die Branche gewerkschaftlich aber sehr schlecht aufgestellt. Es gibt auch kaum Betriebsräte. Die meisten Betriebe sind sehr klein sind und beschäftigen selten mehr als zehn Angestellte.
Bist Du das einzige Gewerkschaftsmitglied?
Nein, es gibt schon einige. Und das Problem der Arbeitsbedingungen wird auch gesehen. Aber wir sind noch weit von formellen Strukturen wie Betriebsräten entfernt. Wir tauschen uns gerade über die Grundlagen unserer Arbeit aus und haben jetzt Awareness-Standards festgeschrieben. Die finden sich auf der Webseite awareness-standards.info. Dazu gehören auch arbeitsrechtliche Aspekte, etwa zu Pausenregelunge oder Schichtlängen. Aber die dann gegenüber Auftraggebern oder Arbeitgebern durchzusetzen, ist eine andere Sache.
Im Mai 2024 und im Juni dieses Jahr hattet ihr Konferenzen im Berliner Mehringhof organisiert, die von der Stiftung gefördert wurden. Welche Erwartungen waren damit verbunden – und haben sie sich erfüllt?
Vor allem aus Deutschland und Österreich waren Personen und Gruppen aus mehreren Städten da. Es gab einen regen Erfahrungsaustausch und wir haben vor allem unsere Standards weiterentwickelt. Für uns sind das wichtige Vernetzungstreffen, eine Grundlage für die nächsten Schritte gemeinsamen Handelns. Wir reden darüber, was verbessert werden könnte, schaffen Perspektiven und überlegen, was wir erkämpfen und verankern können. Und uns ist auch klargeworden, dass wir schon einiges erreicht haben. Viele soziale Bewegungen würden jubeln, wenn ihre Anliegen gesellschaftlich ähnlich breit aufgegriffen würden.
Aktuell gibt es viele Angriffe auf alles "Woke". Von rechtsradikalen Gruppen bis hin zu den Parteien AfD und CDU. Seid ihr davon betroffen?
Ja, ganz körperlich zum Beispiel auch auf den CSDs, die gerade von den Rechten attackiert werden. Doch das beeindruckt uns nicht so sehr, denn wir bekommen mit, dass Awareness in vielen Teilen der Gesellschaft auf große Akzeptanz stößt und unterstützt wird. Viele Menschen wollen Diskriminierungen nicht länger hinnehmen und etwas dagegen tun.
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